25. Etappe: Ponferrada – Villafranca del Bierzo. Schwelgen in Weinbergen, ein turbulentes Intermezzo und eine Stippvisite im realen Leben

Ponferrada ist die letzte größere Stadt bis Santiago de Compostela. Als wollte sie den Abschied so lange wie möglich herauszögern, klammert sie sich mit ihrem Einzugsgebiet förmlich an die Pilger – und schleudert einen dann ohne Vorwarnung mitten hinein in die bildschönen Weinberge der kleinen Region El Bierzo. Einziger Schönheitsfehler der Etappe: ein Fast-Gemetzel unter Hunden.

Hier geht’s zum Video (Ton einschalten): https://youtu.be/w-e0TieY18k

Noch vor Sonnenaufgang erschütterte ein Höllenlärm die Herberge bis in ihre Grundfesten. Die Herbergsväter wollten offenbar nicht nur die Pilger, sondern auch Tote zum Leben erwecken. Gnadenlos brachten sie die Musikanlage an ihre physikalischen Grenzen. Überstürzt verließ ich die Herberge bei Tagesanbruch. Ponferrada lag noch im Tiefschlaf. Menschenleere Straßen schummriges Laternenlicht, die Templerburg im Zwielicht zwischen Nacht und Tag. Ein Ritter auf seinem Ross hätte mich nicht weiter überrascht.

Der Großraum Ponferrada zieht sich. Fast überganglos geben sich Alt-, Neustadt und die Vororte die Klinke in die Hand. Aber anders als in Burgos oder León wirkt alles etwas heimeliger, gediegener, ländlicher. Der schon waldartige Park am Río Sil, der Vorort Compostilla, der mich jedes Mal an Berlin-Zehlendorf erinnert: gepflegte, zurückhaltende Vorstadtvillen, breite, von Bäumen gesäumte Wohnstraßen, großzügige Grünflächen.

Danach franst die Bebauung aus, verdichtet sich wieder zu Ortschaften, tritt erneut zurück. Kleine Flecken Felder, Weiden, Wälder behaupten ihren Platz zwischen den Dörfern. Nach dem letzten Ort klettert der Weg eine kleine Anhöhe hinauf, überquert die Autobahn – und schlagartig wechselt die Szenerie. Sanft gewellte Hügel, ein Meer von Weinrebe, sich üppig aufbauschende Pappelhaine. Und mitten darin der Jakobsweg.

Als hätte die Sonne auf diesen Augenblick gewartet, fegte sie die letzten morgendlichen Nebelreste weg und brachte die Farben zum Glühen: die Weinberge ein farbenfroher Teppich aus grün, gelb und rot leuchtenden Weinblättern, golden flimmernde Pappeln, darüber ein babyblauer Himmel mit watteweißen hauchzarten Federwolken. Nur 24 Stunden zuvor war ich noch auf über 1000 Meter Höhe unter tiefhängenden Wolken über sparsam bewachsene Höhenzüge gewandert. Landschaftswechsel Schlag auf Schlag – Jakobsweg at it’s best.

Im kleinen Städtchen Cacabelos hat der Kontrollrat der El-Bierzo-Weine seinen Sitz. Ganz im Westen von Castilla y León gelegen, hat sich die winzige Region ihre Eigenheiten bewahrt. Sie ist weder so karg und abweisend wie Kastilien, aber auch noch nicht so irisch grün wie Galicien, zu dem es sich eigentlich hingezogen fühlt. Tatsächlich war das Bierzo im 19. Jh. für kurze Zeit eine galicische Provinz. Landschaftlich erinnern die ausgedehnten Weingärten eher an die Toskana. Im milden Mikroklima reifen die Trauben zu kraftvollen Zuckerbomben heran. Die Weine aus ihnen sind schwarzrot, fruchtig, wuchtig. Wie so viele andere standen auch sie bis vor wenigen Jahren im Schatten der berühmten Rioja-Weine. Inzwischen haben sie sich zu Recht emanzipiert und versetzen auch Weinkritiker in Entzücken.

Überraschenderweise hatte ich in Cacabelos plötzlich Lust auf ein Glas Rotwein J. Auf der Terrasse einer Bar am Kirchplatz genoss ich die warme Sonne, freute mich auf ein Riesenstück Tortilla und einen Bierzo-Wein. Plötzlich zerriss lautes Hundegebell die nachmittägliche Ruhe. Von links näherte sich ein hagerer Mann, an der Leine vier große schwarze Hunde. Schneller, als irgendjemand reagieren konnte, fielen die vier Tölen über einen kleinen weißen Hund her, bissen auf ihn ein, rissen ihn hin und her, jeder an einem anderen Ende. Ohne zu denken sprang ich auf und rannte los, ebenso ein spanischer Pilger vom Nebentisch. Inzwischen hatte sich ein wilder, schwarzer Hundeknäuel gebildet, mitten darin das kleine weiße Fellbündel. Der Hundebesitzer am Boden unter seinen blind um sich beißenden Hunden, unfähig, sie zu kontrollieren. Mein einziger Gedanke war: »Ich will nicht sehen, wie der kleine Hund vor meinen Augen in Stücke gerissen wird«. Ich wollte nicht für den Rest meines Lebens dieses Bild dieses Bild in meinem Kopf haben. Der spanische Pilger trat beherzt mit seinen Wanderstiefeln auf die völlig enthemmten, Geifer schleudernden Biester ein, immer wieder, wahllos. Plötzlich schaffte es der kleine Weiße, sich zu lösen. Ich schnappte ihn am Kragen, zog ihn hoch, drückte ihn seinem vor Schock regungslosen Besitzer in den Arm.

Die ganze Szene hatte nur wenige Sekunden gedauert, mir kam es vor wie Minuten. Der kleine Hund hechelte schwer im Arm seines Herrchens. Ich hatte fürchterliche klaffende, blutende Wunden erwartet, aber bis auf den Schreck seines Lebens schien er unverletzt.

Derweil hatte der Hundebesitzer – offenbar ein Obdachloser unbekannter Nationalität – seine Viecher wieder unter Kontrolle. Eigentlich ist es nicht meine Art, aber ich brüllte den Typ mit einer Lautstärke an, die mich selbst überraschte. Er solle seinen Kötern wenigstens Maulkörbe anziehen, fuhr ich ihn an, was, wenn sie das nächste Mal ein Kind anfallen. Wir brüllten uns gegenseitig an, bis der spanische Pilger meinte, es sei gut, es bringe eh nichts. Er hatte ja Recht. Wir zeigten uns noch gegenseitig Fotos unserer Hunde, wollten uns gar nicht vorstellen, dass ihnen so etwas passieren könnte.

Dann widmete ich mich wie geplant der Tortilla und dem Wein. Aber dieser brutale, aggressive Einbruch in unser kleines Pilgerparadies beschäftigte mich noch länger. Erst als ich wieder unterwegs war, kam ich zur Ruhe. Die wunderschönen restlichen 7 Kilometer bis Villafranca del Bierzo durch die traumhaften Weinberge half mir dabei.

Villafranca del Bierzo liegt wie ein Pfropf am Ausgang des schmalen Tals des Río Valcarce. Das hübsche Städtchen mit der kleine, aber feinen Altstadt ist die Hauptstadt der Herzen des El Bierzo. Ein Tagesmarsch flussaufwärts wartet der 1300 m hohe O-Cebreiro-Pass, die Grenze zu Galicien und letzte große Hürde auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Viele Pilger kamen bereits in Villafranca völlig entkräftet an. Wer sich dem Weiterweg nicht mehr gewachsen sah, konnte bereits in Villafranca an der Puerta del Perdón, der Gnadenpforte der Iglesia de Santiago den gleichen Sündenerlass erhalten wie in Santiago.

Wie immer ging ich in die Herberge »de la Piedra« von Livia und Unai. Vor einigen Jahren hatte mich auf einer Recherchereise mit Auto und Hund in den Montes de León ein Wintereinbruch mit Schneefall überrascht. Ende April. Da ich nirgends campen konnte, nahmen mich die beiden samt Hund in ihrer Herberge auf. Seither verbindet uns eine Freundschaft. Ich bekam ein Zimmer für mich, sogar das, in dem ich seinerzeit mit meinem Hund übernachtete. Nach über drei Wochen schlief ich erstmals wieder allein. Wie immer genieße ich solche Nächte auf dem Jakobsweg, gleichzeitig fühlt es sich seltsam an. Als wäre ich vom Weg abgeschnitten.

Bevor ich mich jedoch im breiten Bett mit richtigem Bettzeug (auch das ein kleiner Luxus) ausstrecken konnte, luden mich Livia und Unai zu sich nach Hause ein, um den Geburtstag einer Freundin zu feiern. Es wurde ein lustiger Abend zu viert. Wenngleich mir auch das seltsam vorkam. Wie immer lebte ich nach über drei Wochen auf Wanderschaft gänzlich in meiner Pilgerblase. Jeden Tag früh aufstehen, wandern, abends duschen, essen und früh ins Bett. Ein rastloses, ein heimatloses Leben, Tag um Tag andere Orte, andere Menschen, jede Nacht ein anderer Schlafplatz.

Der plötzliche Kontakt mit dem »normalen« Leben ist in diesem Zustand äußerst verwirrend. Befremdlich, Menschen, die an einem Ort leben, ihren Alltag und Routinen haben, ihre eigenen Wohnungen und Betten. So ist auch mein Leben jenseits des Jakobsweges, und doch scheint es mir beim Pilgern unendlich weit entfernt. Wie bei Harry Potter bewegt man sich auf dem Jakobsweg in einer Parallelwelt. Sie vermengt sich zwar mit der realen Welt und ist doch wie mit einem unsichtbaren Schleier von ihr getrennt.

Über diesen Gedanken schlummerte ich spät abends in meinem weichen, breiten, wohlduftenden Bett ein. Auch wenn es sich komisch anfühlte, ohne andere Pilger*innen im Raum zu schlafen – schön war es dennoch 😊

Etappendaten: 25 km, leicht, flach, vorwiegend Asphalt, kurze Abschnitte auf Feldwegen.

Hinterlasse einen Kommentar

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten