Der Weg nähert sich seinem Ziel. Galicien ist fast zum Greifen nah, die letzte Region auf der langen Wanderung durch Nordspanien. Ich zögerte die Überquerung der Grenze zu Galicien und des legendären O-Cebreiro-Passes noch einen Tag hinaus und ging nur bis in das kleine Bergdorf La Faba. Längst wollte ich dort einmal übernachten. Ich mag solche Orte, winzige Dörfer abseits von allem, selbst mit dem Auto kaum erreichbar. Und ich wollte schon immer einmal in der deutschen Herberge dort schlafen. Meine Entscheidung war genau die richtige: An diesem ganz besonderen Ort fand unsere kleine Pilgerfamilie endlich wieder zusammen.
Hier geht’s zum Video (Ton einschalten): https://youtu.be/PCd0YGb6WT0
Solange es geht, folgt der Jakobsweg dem Río Valcarce flussaufwärts. Für die Pilger und Reisenden im Mittalalter war dies der einfachste Weg vor dem letzten großen Aufstieg auf dem Weg zum Grab des Apostels. Leider haben sich im Lauf der Zeit auch die Nationalstraße und Autobahn in das schmale Tal gequetscht. Auf den ersten 10 Kilometern der Etappe ist der »Camino duro« eine anstrengende, nicht historische, aber wunderbare Alternative: Der »harte Weg« klettert direkt bei Villafranca del Bierzo steil den Berg hinauf, verläuft dann hoch über dem Tal und klettert wieder hinunter zum Jakobsweg.
Beim Aufbruch hingen Wolken schwer im Tal, Regen lag in der Luft. Keine guten Voraussetzungen für den »Camino duro«. Ich blieb den schlechten Vorzeichen zum Trotz stur. Der Regen verschonte mich, stattdessen zogen die Wolken das ganze Register dramatischer Stimmungen. Sie ballten sich zu Nebel zusammen, ließen Konturen geheimnisvoll verschwimmen, stoben wieder auseinander, gaben den Blick frei auf schüttere Vegetation, krochen theatralisch den Hang hinauf, rissen unvermittelt auf, machten gleißendem Sonnenlicht Platz. Eine Wanderung ganz nach meinem Geschmack, fast 400 Meter über dem Tal.
Dann endet die eher spröde-heideartige Landschaft schlagartig und ein zauberhafter Esskastanienwald beginnt. Uralte Bäume mit dicken knorrigen Stämmen und ausladenden Kronen. Über viele Jahrhunderte waren die Kastanien in den bergigen Gebieten Nordspaniens unentbehrlich: zum Essen, Bauen und Heizen.
Inzwischen hat man die Kastanie wieder neu entdeckt. Sogar ein eigener Kontrollrat legt die Qualitätsstandards. Die Kastanien werden geröstet, eingelegt, zu Mehl verarbeitet oder zum Kochen verwendet.
Durch den Kastanienwald, in dem überall fleißig geerntet wurde, geht es hinunter ins Tal. Ab dem Dorf Trabadelo hat man keine Wahl: Neben der alten Nationalstraße, später auf einer alten Landstraße geht es ein paar Kilometer mehr oder weniger übergangslos von Dorf zu Dorf. Wenigstens hat die weit oben am Talhang angelegte Autobahn den meisten Verkehr geschluckt.
Bei meiner ersten Wanderung 2001 hatte ich im Dorf Ruítelan in der Herberge Pequeño Pótala übernachtet. Ich werde nie vergessen, wie ich in den kleinen Garten kam und direkt auf den blanken Po eines anderen Pilgers schaute. Er kniete auf einem Stuhl, eine junge Frau klebte ihm ein handtellergroßes Pflaster auf eine Pobacke. Ich vermutete eine schlimme Schürfwunde nach einem Sturz auf dem Camino. Der junge Spanier grinste aber gutgelaunt. “Es ist so”, klärte er mich auf, “mich hat eine Kuh auf die Hörner genommen”. Nicht aber etwa auf dem Weg, sondern bei ihrer Hochzeitsfeier am Vorabend, bevor sie auf den Jakobsweg gingen. Bei der Feier gab es ein in Spanien übliches Kuhtreiben – dabei hatte ihn eine Kuh auf die Hörner genommen.
Das hielt das Paar aber von der längst geplanten Hochzeitsreise nicht ab: 300 Kilometer gemeinsames Pilgern von León nach Santiago. Sie waren überzeugt: Wenn die junge Ehe das aushielte, dann auch den restlichen gemeinsamen Lebensweg. Ich frage mich oft, ob sie jetzt, fast 20 Jahre danach, noch immer gemeinsam durch ihr Leben wandern. Ich hoffe es!
Kurz nach Ruitelán tastet sich der Jakobsweg durch ein kleineres Tal langsam an den Fuß des Passes heran. Der Kontrast zu den auf der Meseta durchstreifen Landstrichen könnte größer nicht sein: links und rechts dicht bewaldete Hügelflanken, dazwischen zwei verschlafene Dörfer und sattgrüne Weiden mit zufrieden wiederkäuenden Kühen. Unvermittelt zeigt ein Pfeil vom schmalen, alten Passsträßchen weg und in den Wald. Der Aufstieg nach Galicien beginnt – die folgenden fast 30 Kilometer hinauf zum O-Cebreiro-Pass, über den Bergzug und hinunter nach Triacastela zählen zu den schönsten des Jakobsweges.
Aber ich stieg nur gut 3 km hinauf nach La Faba auf 900 m Höhe. Durch einen wunderschönen Laubmischwald steigt der teils steinige und wurzelige Weg bergan. Ich liebe diesen Abschnitt doppelt: Weil ich in meiner mediterranen Wahlheimat solche nach lebenspendender Feuchtigkeit, Laub und Moss duftenden Wälder oft vermisse. Und weil er mich an die Wälder meiner süddeutschen Heimat erinnert. Und dann, mitten darin, das winzige La Faba. Ein Dorf wie aus dem Märchen. Ein kleiner dem Wald abgerungener Flecken, ein paar Häuschen, in schiefer Hanglage große Gemüsegärten zwischen uralten Natursteinmauern.
Am Dorfrand, noch halb im Wald, stehen die alte Dorfkirche und das ehemalige Pfarrhaus. Die deutsche Jakobusgesellschaft Ultreya restaurierte das steinerne Kirchlein und wandelte das Pfarrhaus in eine Pilgerherberge um. In den Top Ten der Herbergen rangiert sie ganz oben. Lange vor Corona erfüllte der Schlafraum die Abstandsregeln, in einem separaten Raum eine große Küche und ein gemütlicher Essplatz. Ein Stück warme Geborgenheit in der früh hereinbrechenden, regnerischen Herbstnacht. Und das beste: Romain schrieb, dass sie unterwegs seien, auf jeden Fall auch nach La Faba kommen würden. Im Rucksack: die Zutaten für Spaghetti Carbonara. Ich stürzte gleich los und besorgte im winzigen Dorfladen Rotwein.
Der nette Hospitalero Hardy war der letzte der Saison 2019. Zwei oder drei Tage später sollte er die Herberge winterfest machen und bis zum Frühjahr 2020 schließen. Dass sie coronabedingt nicht wiedereröffnete – das hätten wir uns nicht träumen lassen. Damals freute er sich nur, dass er kurz vor der Schließung nochmal volles Haus bekam, auch wenn wir irgendwann nicht mehr an die Ankunft meiner Pilgerfreunde glaubten. Längst war die kalte, regnerische Herbstnacht hereingebrochen. Plötzlich schwang die Tür auf, ein Schwall eisiger Luft füllte den Raum – aber das Lächeln eines völlig durchnässten Romain wärmte mir das Herz. Nach und nach kamen auch Eleonora, Carola und Kristina sowie unser Neuzuwachs Raphaela und ein Belgier, den sie unterwegs noch aufgegabelt hatten. Was für eine Wiedersehensfreude! Ruckzuck war Leben in der Bude.
Sie waren wie immer erst spät aufgebrochen. Zwar hatten sie den kürzeren Weg durch das Tal genommen, dennoch hatten sie bei diversen Zwischenstopps viel Zeit verloren. Aber sie wollten es unbedingt bis La Faba schaffen, wollten unbedingt wieder zu mir aufschließen. Deshalb stiegen sie bei Nacht und Regen über Stock und Stein durch den finsteren Wald auf, im funzeligen Licht der Stirnlampen – ich war total gerührt.
Wir hatten uns viel zu erzählen, aber die Top-Neuigkeit lieferte Amor: Nachdem er den stillen Romain und die quirlige Eleonora ein paar hundert Kilometer beobachtet hatte, beschloss er einzugreifen. Weder Romain noch Eleonora hatten damit gerechnet und doch großes Glück gefunden. Soviel sei verraten: Trotz Corona, trotz Grenzschließungen und Reiseverboten zwischen Frankreich und Italien – sie sind noch immer zusammen. Geschichten, die der Jakobsweg schreibt.
Tatsächlich wurde an diesem Abend Spaghetti Carbonara gekocht. In einem winzigen Bergdorf in einem abgelegenen Winkel Galiciens in internationaler Runde von echten Italienerinnen zubereitete Pasta zu genießen – was kann es Besseres geben? Eine der Mahlzeiten, an die ich noch lange und gerne zurückdenken werde.
Vor einigen Jahren verkostete ich mein erstes (und letztes) mit 3 Michelin-Sternen dekoriertes Menü. Ich arbeitete an einem Reisemagazin zu Nordspanien. Eines der Themen war ein Interview mit einem bekannten spanischen Sterne-Koch zur baskischen Küche. Tags zuvor sprach ich mich mit einem Berghirten in den Picos de Europa über sein Leben und. Wir hatten uns mitten in den Bergen bei einer Viehtränke verabredet und stiegen von dort, begleitet von seinen Kühen, zu einer Berghütte auf. Dort holte er aus seinem Rucksack unser Mittagsmahl: herzhaften, groben Käse und deftige hausgemachte Wurst. Das Aroma der Berge, der herzhaften Kräuter und saftigen Gräser war zu schmecken, aber auch die Arbeit und Mühe der Herstellung.
Kaum 24 Stunden später saß ich mit dem Fotografen des Magazins in dem noblen Sterne-Restaurant in San Sebastián. Zuvor durften wir einen Blick in das »Labor« werfen, in dem die Rezepte kreiert werden: ein Zwitter, halb 08/15 Einbauküche von Ikea, halb Chemielabor. Anschließend wurden wir zu einem mehrgängigen Menü eingeladen. Jedem Gang ging eine ausführliche Erklärung voraus, die in keinem Verhältnis zu den winzigen Kreationen stand, die sich eingeschüchtert auf den weitläufigen Tellern verloren. Die wichtigsten Fragen blieben offen. Etwa, ob die vergoldeten (!) Zwiebelschalen essbar seien. Wir befanden: Muss ja! Aber es bewahrheitete sich die Weisheit: Geld und Gold kann und sollte man nicht essen. Am Ende gab es Kaffee und ein Sortiment erlesenen Konfekts. Ich freute mich auf einen unkomplizierten Genuss ohne ausschweifende Erklärung. Gerade als ich zugreifen wollte, materialisierte sich die Tochter des Sternekochs am Tisch und stellte uns jede uns jede Praline mit Vor-, Nachnamen und vollständigen Stammbaum vor, es fehlten nur noch die Koordinaten der Standorte der Kakaobäume …
Das Menü hätte ohne Einladung 150 Euro (pro Kopf!) gekostet, die zwei Flaschen Rot- und Weißwein nicht mit eingerechnet. Eine obszöne Summe für ein Mittagessen.
Ich habe seltene ein Essen so wenig genossen. An viele sind mir im Gedächtnis geblieben. Das erste vor über 28 Jahren in Venezuela in einem abgelegenen Bergdorf auf 2600 m Höhe. Mit der Seilbahn ging es von der Kleinstadt Mérida auf 4000 m hoch, von dort auf einem Eselspfad 1400 Höhenmeter und 13 Kilometer hinunter nach Los Nevados, eine kleine Häuseransammlung in der gewaltigen Kulisse der nördlichen Andenausläufer, nur erreichbar über diesen schmalen und steilen Bergpfad und aus dem Tal über eine Buckelpiste mit Jeep. Meine erste große Wanderung, in Begleitung eines Schweizer Backpackers. Wir blieben zwei Nächte. Nuria, eine fidele junge Frau bekochte die Dorfgäste, stets einen Schlager trlällernd. Ich erinnere mich an jedes Detail des ersten Abends: der grobe, fast raumfüllende Holztisch, die bunte Gruppe von Schweizer und französischen Wanderern, Nuria ganz in blaue Wolle gekleidet: Hose, Pulli und eine schief sitzende Mütze auf den roten Harren. Ich erinnere mich an die köstlichsten Forellen meines Lebens, den eiskalten, frisch gepressten Ananassaft aus kleinen, feucht beschlagenen Alubechern.
Es folgten viele denkwürdige Essen, vor allem beim Wandern, vor allem auf den Jakobswegen. Sie waren meist einfach, manchmal improvisiert, schnörkellos und ohne Chichi, aber immer mit großem Appetit und mit Begeisterung in froher Runde genossen. Oft saßen so viele Nationalitäten wie Menschen am Tisch. Jedes noch so einfache Essen hatte seine Besonderheit, die herrliche Porzellansuppenschüssel aus Omas Aussteuer, die knusprige Kruste des Wagenrad großen Brotes in Cea, der Teller Reis nach einer wochenlangen Abfolge von Pommes und Nudeln, die von zwei italienischen Aushilfs-Hospitaleros aus der Not heraus improvisierten kalten Baguettes, bei Kerzenschein und ohne Handygedudel verschlungen, weil der Strom ausgefallen war … Von den dem Menü des Sternekochs erinnere ich nur eine breiige Textur und das penetrante Sodbrennen noch Stunden danach.
Essen muss Freude bereiten. Auf den vielen Jakobswegen habe ich gelernt: Es ist gar nicht so wichtig, was auf dem Teller liegt – entscheidend ist, wer mit am Tisch sitzt.
An jenem Abend in La Faba waren die von Eleonora und Carola gezauberten Spaghetti Carbonara natürlich köstlich. Aber es hätte auch Knäckebrot und Kamillentee geben können – was zählte, war, dass wir wieder zusammenwaren, unsere lebhaften Unterhaltungen auf Englisch mit italienischem, französischem und deutschem Akzent, das gemeinsame Lachen. Dort oben, in dem winzigen Bergdorf unter unendlich vielen funkelnden Sternen der Milchstraße – auch wenn sie sich hinter den Wolken versteckten.